Sunday, October 20, 2013

Interview mit Stefan SangitOm Petersilge in der Monatszeitschrift "VISIONEN" Ausgabe 12/2012

YOGA DES WESTENS
Alte Volkstänze auf Kreta und ihre spirituelle Bedeutung

Der Tanz ist seit über 3000 Jahren der wohl wichtigste Aspekt der griechischen Kultur. Stefan Petersilge, als Musiker auch unter dem Namen Sangit Om bekannt, spricht im VISIONEN-Interview über traditionelle Volkstänze, die er auf Kreta in Kursen vermittelt.

Stefan, du erforschst seit einigen Jahren griechische, speziell kretische Tänze. Wie bist du darauf gekommen? Was fasziniert dich daran?

Von Hause aus bin ich ja Musiker, ich studierte Musik und war viele Jahre lang als Musikproduzent und Jazzmusiker, später auch im Bereich der New-Age- und Weltmusik tätig. Vor allem in Indien suchte ich nach "meiner" Musik, wo ich auch die Bansuri (Indische Bambusflöte) entdeckte. Unter dem Namen "Sangit Om" produzierte ich viele CDs, die westliche und östliche Musiktraditionen miteinander verbinden. Als ich anfangs der 90er Jahre nach Kreta in Urlaub fuhr, erlebte ich zum ersten Mal ein Fest, auf dem mit der Lyra, einer Art Kniegeige, und der kretischen Laute die typische kretische Musik gespielt wurde. Ich war sofort fasziniert, denn mir war, als hätte ich ein lange gesuchtes Verbindungsglied zwischen Ost und West entdeckt. Den Rest des Urlaubs verbrachte ich damit, mehr über diese Musik in Erfahrung zu bringen, und ich kaufte mir eine Lyra, das kretische Hauptinstrument.

Ich lernte also, auf der Lyra kretische Musik zu spielen, aber sehr bald interessierte mich auch der kretische Tanz, denn in dieser Tradition sind Musik und Tanz untrennbar miteinander verbunden. In Hamburg meldete ich mich in einer griechischen Tanzschule an und beschäftigte mich zunächst mit den unzähligen griechischen Volkstänzen. Auf Kreta, wo ich nun seit zehn Jahren lebe, nahm ich später in verschiedenen Tanzschulen Tanzunterricht. Was mich daran so faszinierte? Ich spürte da eine Einheit von Musik und Tanz, die ich so noch nirgendwo erlebt hatte. Wort, Musik und Tanz gehören hier untrennbar zusammen, wie schon von Platon und anderen beschrieben. Sowas ähnliches hatte ich auch in Indien erlebt, aber hier in Kreta ist es das "einfache Volk", das allabendlich sozusagen zum Darsteller eines antiken Dramas wird. Daran teilhaben zu dürfen ist für mich ein großes Glück und eine große Ehre. Nach 30 Jahren Musikerleben auch den Tanz zu entdecken gab mir das Gefühl, endlich "ganz" zu sein, mich total hingeben zu können, mich selber im Tanz und in der Musik zu verlieren und Teil von etwas Größerem zu werden.

Was sind die typischen Formen dieser Tänze?

Formell entsprechen die kretischen Tänze den meisten übrigen griechischen Volkstänzen: man tanzt im offenen Kreis und hält sich an den Händen oder an der Schulter. Der oder die Erste im Kreis führt den Kreis an und vollführt dabei spezielle Tanzfiguren oder Sprünge. Es gibt auch Paartänze in verschiedenen Variationen, aber die spielen eine eher untergeordnete Rolle. Anlässe zum Tanzen gibt es reichlich: Dorffeste, Hochzeiten, gesellschaftliche Ereignisse, private Feierlichkeiten, oder man tanzt einfach ganz spontan.

Gibt es Tänze. die noch auf die alte minoische Kultur zurückgeführt werden können?

Leider gab es zur Zeit der minoischen Kultur auf Kreta (die ihre Blütezeit von ca. 2600 bis 1500 v.Chr. erlebte) noch keine Videokameras. Wenn wir uns streng an die Quellen halten, ergibt sich ein eher vages Bild. Immerhin wissen wir, dass der Tanz, speziell auch der Kreistanz, sowohl im religiösen als auch im weltlichen Kontext eine sehr große Rolle spielte. Schon Homer berichtete davon, und zahlreiche antike Abbildungen sprechen für sich. In Kamilari - jenem Ort, wo meine Tanzseminare meistens stattfinden - hat man in einem minoischen Kuppelgrab eine wunderschöne Tonfigur gefunden, die einen Reigen von Tänzern darstellt.

Es gibt aber noch andere Argumente für die These, dass die Wurzeln der kretischen Tänze in die minoische Zeit zurückgehen. Kreta wird ja oft als "Wiege Europas" bezeichnet. Die griechisch europäische Kultur und Zivilisation nahm hier ihren Anfang, und wenn man erlebt, wie die traditionellen kretischen Festlichkeiten heute noch begangen werden, bekommt man das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben und die alten Minoer seien wieder auferstanden. Angesichts dessen, dass hier die Häuser oft immer noch mit behauenen Steinen gebaut werden und diese schon in minoischen Bauwerken verwendet wurden, bevor sie dem Zahn der Zeit zum Opfer fielen, bekommt man einen Eindruck von der Kontinuität, die über Tausende von Jahren bewahrt wurde. Deshalb gehe ich davon aus, dass die meisten kretischen Tänze auch schon in minoischer Zeit ähnlich wie heute getanzt worden sind.

Das Symbol bzw. die Idee des Labyrinths kommt ja wohl ursprünglich aus Kreta. Dazu soll es auch einen Tanz geben. Kannst du dazu etwas sagen?

Ja, das Labyrinth spielt in der kretischen Mythologie eine große Rolle. Im Zentrum des Labyrinths soll ein Menschen fressendes Ungeheuer, eine Kreuzung aus Stier und Mensch, gehaust haben. Jedes Jahr wurden ihm vierzehn junge Menschen aus Athen geopfert, indem sie in dieses Labyrinth geschickt wurden, aus dem sie nie wieder herausfanden. Bis eines Tages Theseus, ein Königssohn aus Athen, es schaffte, den Minotaurus zu besiegen und mitsamt seinen Freunden aus dem Labyrinth heil wieder heraus zu kommen. Aus Freude darüber sollen sie zusammen ihren Gang durch das Labyrinth in Form eines Tanzes noch einmal dargestellt haben. lnteressanterweise gibt es heute in ganz Griechenland noch Tanze mit diesem Hintergrund. Auf Kreta ist es vor allem der "Siganos", der auf den Labyrinthtanz zurückgeführt wird.

Dieses epochale Ereignis soll nach Meinung vieler die Geburtsstunde des typischen griechischen Tanzes sein. Tatsächlich geht es bei den griechischen Tänzen immer wieder um die Themen Tod und Wiedergeburt, den Sieg des Lichts über die Dunkelheit, die Wiedergeburt nach der Begegnung mit den Dämonen. Analog zum Labyrinth könnte man sagen, dass man beim Tanzen gemeinsam durch etwas "hindurchgehen" muss. Insofern verstehe ich die griechischen Tänze auch als Therapie, als Heiltänze oder als "heilige Übungen", die die Götter den Menschen übermittelten, damit sie sich von den inneren Dämonen befreien und sich mit dem "Göttlichen" in Verbindung setzen konnten.

Du bietest auf Kreta Tanzkurse an. Wie läuft das ab? Welche Voraussetzungen sollten die Teilnehmer mitbringen?

Der nächste Kurs Ende April 2013 trägt den Titel "Kretas vergessene Tänze". Es gibt nämlich heute auf Kreta fünf Standardtänze, die hier jeder kennt und die auf jedem Dorffest, bei Hochzeiten und anderen Feiern getanzt werden. Es ist allerdings allgemein wenig bekannt, dass es noch viele weitere kretische, fast in Vergessenheit geratene Tänze gibt, die kaum oder nur in einzelnen Dörfern gepflegt werden. Um solche Tänze geht es in diesem Seminar. Sie bilden einen einmaligen kulturellen Schatz und verdienen es, vor dem Vergessen bewahrt zu werden. Erst in letzter Zeit finden sie wieder vermehrt Beachtung.

Meine Kurse wenden sich sowohl an blutige Anfänger als auch an "alte Hasen". Das ist zum einen dadurch möglich, dass ich die Gruppen relativ klein halte, aber auch dadurch, dass das gemeinsame Tanzen im Kreis eine Atmosphäre und eine Dynamik schafft, die uns unseren westeuropäischen, leistungsorientierten Verstand einmal ausschalten und als Gruppe agieren lässt, also gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, anstatt einander zu konkurrieren. Wenn das gelingt, geschehen Wunder, und ich bin selbst immer wieder verblüfft und dankbar angesichts der Begeisterung, die aus diesen Tänzen heraus entstehen kann. Ich fühle mich dann eigentlich nur noch als "Kanal", durch den die Tänze vermittelt werden, um dann ihre Wirkung zu entfalten.

Neben diesen Tanzkursen gebe ich auch Kurse zum Thema: "Griechisch tanzen & trommeln". Es geht dabei vor allem um die lebendige Erfahrung der sich sowohl im Tanz als auch in der Musik ausdrückenden rhythmischen Prinzipien. Diese Kurse sind so konzipiert, dass Tanzbegeisterte auch den Rhythmus entdecken und dabei Instrumente spielen, also zu Musikern werden. Andere. die eher von der Musik herkommen, lernen tanzen. Hier findet also immer ein sehr lebendiger und kreativer Prozess statt.

Auch dieser Kurs wendet sich an Anfänger und Fortgeschrittene. Wie die anderen Kurse dauert er sieben Tage. Täglich gibt es drei Stunden intensiven Unterricht sowie die Möglichkeit zu anderen Aktivitäten, z.B. Besuch eines Livekonzerts, ein Spaziergang zu einem über 2000 Jahre alten Olivenbaum, oder einfach nur zusammen sein, abends etwas kochen, zwanglos miteinander tanzen.

Welche Landschaft, Atmosphäre und Menschen können die Teilnehmer erleben?

Die kretische Landschaft ist phänomenal, die Berge sind über 2S00 m hoch, deren Gipfel oft bis im Juni schneebedeckt sind. Die Insel ist vom tiefblauen Meer umgeben. Mit unzähligen Buchten und Stränden. Für mich gehören Tänze und Musik untrennbar zu dieser grandiosen Landschaft. Dieselbe Tiefe. die ich in der Musik empfinde, begegnet mir auch hier. Natürlich prägt das auch die Kreter. Die Menschen hier sind sehr gastfreundlich und mit Recht stolz auf ihre alte Kultur. Um sie besser zu verstehen, ist es übrigens wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Bevölkerung hier immer wieder unter Fremdherrschaft zu leiden hatte, sich immer wieder im Widerstand aufrieb, was oft mit unsagbarem Leid verbunden war. Auch das spürt man in den Liedern und Tänzen.

Was liegt dir besonders am Herzen?

Ich bekenne, dass das Tanzen für mich eine spirituelle Qualität hat. Für mich ist Tanzen ein Weg zur inneren geistigen Entwicklung, weg vom Ego, hin zum "Alles ist Eins". Dabei liegt für mich das Besondere am griechischen Tanz darin, dass er nicht beansprucht, spirituell oder esoterisch zu sein. Es handelt sich ja um Volkstänze, d.h. sie werden vom "einfachen Volk" gepflegt. Man muss also nicht unbedingt eine spirituelle Lebenseinstellung haben, um gut tanzen zu können. Dennoch bin ich überzeugt, dass diese Tänze ursprünglich in religiösen und rituellen Zusammenhängen entstanden. Sie sind kunstvoll ausbalanciert und üben eine starke und gezielte Wirkung auf Körper und Geist aus.

Ich nenne diese Tanzkultur "das Yoga des Westens", weil ich eine Verbindung zum indischen Yoga sehe, wo ja der Tanz auch eine wichtige Rolle spielt. Nun entdecken wir auf einmal, dass wir gar nicht nach Indien reisen müssen, direkt vor unserer Haustüre gibt es einen ebenso großen Schatz, der noch dazu als lebendige Tradition existiert und erfahrbar ist.

Es liegt mir am Herzen, viele Menschen erkennen zu lassen, dass der griechische Tanz viel mehr ist als Syrtaki und Bouzoukimusik bei griechischem Wein. Das ist zwar auch eine gute Sache und oft auch ein guter Einstieg, aber daüber hinaus gibt es noch viel, viel mehr zu entdecken.

Das Interview führte Christian Salvesen