Saturday, November 21, 2015

Eine Formel der Schönheit

(Diesen kleinen Vortrag habe ich während meines Workshops "Griechischer Tanz und Rhythmus - Tanzen & Trommeln auf Kreta" im Oktober 2015 gehalten)

Immer wieder bin ich fasziniert, wenn sich Menschen zusammenfinden um sich mit Griechischen Tänzen, Rhythmen und Musik zu beschäftigen. Warum tun wir das? Es könnten doch auch deutsche Rhythmen sein, oder afrikanische... aber anscheinend übt die griechische Kultur und Tradition auf einige Menschen eine ganz besondere Faszination aus. Für mich ist es so, dass ich oft das Gefühl habe, als ob ich da nur an der Oberfläche von etwas gigantischem kratze, dessen Inhalt ich nur erahnen kann. Als ob da etwas verborgen liegt, das ich schon immer gesucht habe... das zu tun hat mit Schönheit, meinem Streben nach Glück, meiner Suche nach Sinn, nach Erfüllung... alles Themen, mit denen sich schon die Griechischen Philosophen der Antike ausgiebig beschäftigt haben. Damit haben sie einen Grundstein gelegt, ein Fundament, auf dem eigentlich die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie und Kultur bis heute aufgebaut ist. Dabei ist und bleibt das Grundthema immer der Mensch, das Individuum mit seinem Schicksal, seiner existentiellen Situation.

Es gibt ein berühmtes Gedicht von Rainer Maria Rilke, es handelt von seinen Gedanken beim betrachten einer antiken Statue des Griechischen Gottes Apoll: Archaïscher Torso Apollos.

Das Gedicht endet mit dem bemerkenswerten Satz: "Du musst dein Leben ändern". Mit anderen Worten: die eigenartige Vollkommenheit dieser nur noch als Fragment vorhandenen Statue inspiriert den Dichter und duldet keinen Stillstand. Sie bringt ihn in Bewegung, bringt ihn auf die Idee sich zu erneuern, immer weiter zu gehen, im Fluss zu bleiben, sich zu ändern.

Was aber haben diese Statue und dieses Gedicht mit den griechischen Rhythmen und Volkstänzen zu tun? Dazu müssen wir verstehen, dass die griechischen Volkstänze nicht etwa simple, relativ beliebige Tänze sind, die aus reiner Bewegungsfreude quasi von selbst "im Volk" entstanden sind. Die Wurzeln reichen zurück bis in die Minoische Zeit, liegen aber vor allem in der klassischen Periode der griechischen Antike. Ein paar Jahrhunderte, während derer eine gigantische Kulturbewegung stattgefunden hat. Viele der noch heute getanzten Griechischen Volkstänze waren ursprünglich heilige Tempeltänze, rituelle Tänze für die Götter und Dämonen, Bestandteile von Initiationsriten oder Mysterien aus dieser Zeit.

Man hat beobachtet, dass wann immer bedeutende Kulturen untergehen, die dazugehörigen kulturellen Inhalte nicht einfach verschwinden, sondern vom Volk bewahrt und als Tradition von Generation zu Generation weitergegeben werden. Genau das ist mit den Griechischen Rhythmen und Tänzen passiert, und wenn wir heute z.B. eine Kretische Hochzeit erleben, erleben wir eigentlich die Aufführung eines Griechischen Dramas. Natürlich nicht im Original, aber doch vom "Geist" her. In dieser Musik und in diesen Tänzen liegt ein altes Wissen verborgen, das seine Kräfte für diejenigen entfaltet, die sich ernsthaft hineinbegeben in diese Welt.

Um nicht in den Verdacht zu geraten, lediglich eine romantische Fantasiewelt zu erschaffen, möchte ich nun einmal ganz praktisch und konkret werden und einen Aspekt herausgreifen: die übergreifenden Gesetze von Schönheit und Harmonie. Pythagoras, einer der allerersten grossen Philosophen hat sich mit Zahlenverhältnissen beschäftigt. Er hat z.B. herausgefunden, dass die gespannte Saite eines Musikinstrumentes, die genau in der Mitte abgeteilt wird, eine Oktave höher schwingt als die gesamte Saite. Als „Oktave“ bezeichnet man den Abstand zweier Noten, wobei es sich um die gleiche Note handelt, nur im nächst höheren (oder tieferen) Register. Eine Oktave umfasst übrigens auch alle acht Töne einer Tonleiter, wobei der letzte Schritt (Nummer acht) wieder dem ersten Ton entspricht – nur eben eine Oktave höher. Als nächstes kam Pythagoras der Gedanke, die Saite zu dritteln. Dadurch erklang ein Ton, der mit dem Grundton zusammen eine Quinte (fünf Schritte Abstand) bildet. Das ist nach der Oktave der am reinsten klingende Tonabstand. Daraufhin hat Pythagoras einen genialen Trick angewandt, um alle weiteren musikalischen Töne aus diesen beiden Zahlenverhältnissen abzuleiten. Er teilte ein Drittel der Saite ab (1:3) und erhielt dadurch die Quinte. Dann wiederholte er die Prozedur mit dem verbleibenden 2:3-Stück. Damit landete er bei einer None (9 Töne Abstand), bezogen auf die ursprüngliche, ganze Saite. Eine None bedeutet: eine Oktave (8 Töne Abstand) plus ein weiterer Ton. Nun kam der nächste Trick: er multiplizierte dieses Stück, das die None bildete mit 2, dadurch landete er wieder eine Oktave tiefer und befand sich dadurch nur noch einen Ton vom ursprünglichen Grundton, der von der ganzen, ungeteilten Saite erzeugt wird, entfernt. Man nennt dieses Intervall „Sekunde“ oder auch Ganzton-Schritt. Durch das Errechnen dieses Schrittes hat Pythagoras den Grundstein zur Tonleiter gelegt. Aus ihr lassen sich Melodien und Harmonien erzeugen, so wie wir sie bis heute kennen. Gleichzeitig hat Pythagoras die Korellation zwischen räumlichen Verhältnissen (Längenmasse der Saite) und Klängen gezeigt. Man kann diesen Weg von der ganzen Saite zum Ganztonschritt durch systematische Unterteilung einer Saite mit einer relativ simplen Formel darstellen:
(2/3)2 x 2 = 8/9



Nun ein Szenenwechsel: neulich sah ich einen Dokumentarfilm über den Parthenon Tempel. Bekanntlich gilt dieser Tempel inmitten Athens als ein Wunderwerk an Ebenmass und überirdischer Schönheit. Ein britischer Wissenschaftler, Mark Wilson Jones, erzählte von seinen Bemühungen, eine Erklärung für die Präzision und zugleich Vollkommenheit seiner Proportionen zu finden. Er erzählte, dass er ein Bauelement gefunden hat, die sogenannten Triglyphen (Steine mit drei senkrechten Linien), die sich aneinandergereiht um den gesamten Tempel zogen. Und Wilson Jones sagte: "Dieser Tempel hat 81 Triglyphen in der Länge und 36 in der Breite". Als ich das hörte trat meine innere Rechenmaschine spontan in Aktion und ich kam darauf, dass dies dem Verhältnis 9:4 entspricht... also genau dem Verhältnis der None zum Grundton! Das finde ich schon sehr bemerkenswert und es handelt sich mit Sicherheit nicht um einen Zufall.

Und was hat das ganze mit unserem Thema "Tanz und Rhythmus" zu tun? Nun, wir haben gesehen, dass das räumliche "Mass" sowohl die Proportionen eines Tempels als auch den Klang von musikalischen Tönen bestimmen kann. Was, wenn das auch für Rhythmus und Tanz gilt? Für beide gilt das Zeitmass als Richtlinie. Wenn z.B. ein Trommler einen gleichmässigen Beat spielt und ein zweiter spielt dazu genau doppelt so schnell, dann befinden sich beide im Abstand einer Oktave zueinander. Denn auch wenn zwei Saiten (die eine doppelt so lang wie die andere) im Abstand einer Oktave klingen, schwingt die eine Saite doppelt so schnell wie die andere. Für die Tänzer ist zudem das Raummass wichtig, indem sie mit ihren Schritten und Körpern den Raum durchmessen. Übrigens gibt es in Griechenland auffallend viele Tänze die im 9/4 oder 9/8 Rhythmus gespielt werden. Hier haben wir also auch wieder die gleichen Proportionen. So könnte man sagen: diese Tänze sind getanzte Tempel – und diese Tempel sind in Marmor gebaute Musik. Und die neun(!) Olympischen Musen wachen bis heute über die ewigen Gesetze der Schönheit.

Stefan Petersilge November 2015