Interview mit Stefan SangitOm Petersilge in der Monatszeitschrift "VISIONEN" Ausgabe
12/2012
YOGA
DES WESTENS
Alte Volkstänze auf Kreta und ihre
spirituelle Bedeutung
Der Tanz ist seit über 3000 Jahren der
wohl wichtigste Aspekt der griechischen Kultur. Stefan Petersilge,
als Musiker auch unter dem Namen Sangit Om bekannt, spricht im
VISIONEN-Interview über traditionelle Volkstänze, die er auf Kreta
in Kursen vermittelt.
Stefan, du erforschst seit einigen
Jahren griechische, speziell kretische Tänze. Wie bist du darauf
gekommen? Was fasziniert dich daran?
Von Hause aus bin ich ja Musiker, ich
studierte Musik und war viele Jahre lang als Musikproduzent und
Jazzmusiker, später auch im Bereich der New-Age- und Weltmusik tätig.
Vor allem in Indien suchte ich nach "meiner" Musik, wo ich
auch die Bansuri (Indische Bambusflöte) entdeckte. Unter dem Namen
"Sangit Om" produzierte ich viele CDs, die westliche und
östliche Musiktraditionen miteinander verbinden. Als ich anfangs der
90er Jahre nach Kreta in Urlaub fuhr, erlebte ich zum ersten Mal ein
Fest, auf dem mit der Lyra, einer Art Kniegeige, und der kretischen
Laute die typische kretische Musik gespielt wurde. Ich war sofort
fasziniert, denn mir war, als hätte ich ein lange gesuchtes
Verbindungsglied zwischen Ost und West entdeckt. Den Rest des Urlaubs
verbrachte ich damit, mehr über diese Musik in Erfahrung zu bringen,
und ich kaufte mir eine Lyra, das kretische Hauptinstrument.
Ich
lernte also, auf der Lyra kretische Musik zu spielen, aber sehr bald
interessierte mich auch der kretische Tanz, denn in dieser Tradition
sind Musik und Tanz untrennbar miteinander verbunden. In Hamburg
meldete ich mich in einer griechischen Tanzschule an und beschäftigte
mich zunächst mit den unzähligen griechischen Volkstänzen. Auf
Kreta, wo ich nun seit zehn Jahren lebe, nahm ich später in
verschiedenen Tanzschulen Tanzunterricht. Was mich daran so
faszinierte? Ich spürte da eine Einheit von Musik und Tanz, die ich
so noch nirgendwo erlebt hatte. Wort, Musik und Tanz gehören hier
untrennbar zusammen, wie schon von Platon und anderen beschrieben.
Sowas ähnliches hatte ich auch in Indien erlebt, aber hier in Kreta
ist es das "einfache Volk", das allabendlich sozusagen zum
Darsteller eines antiken Dramas wird. Daran teilhaben zu dürfen ist
für mich ein großes Glück und eine große Ehre. Nach 30 Jahren
Musikerleben auch den Tanz zu entdecken gab mir das Gefühl, endlich
"ganz" zu sein, mich total hingeben zu können, mich selber
im Tanz und in der Musik zu verlieren und Teil von etwas Größerem
zu werden.
Was
sind die typischen Formen dieser Tänze?
Formell
entsprechen die kretischen Tänze den meisten übrigen griechischen
Volkstänzen: man tanzt im offenen Kreis und hält sich an den Händen
oder an der Schulter. Der oder die Erste im Kreis führt den Kreis an
und vollführt dabei spezielle Tanzfiguren oder Sprünge. Es gibt
auch Paartänze in verschiedenen Variationen, aber die spielen eine
eher untergeordnete Rolle. Anlässe zum Tanzen gibt es reichlich:
Dorffeste, Hochzeiten, gesellschaftliche Ereignisse, private
Feierlichkeiten, oder man tanzt einfach ganz spontan.
Gibt
es Tänze. die noch auf die alte minoische Kultur zurückgeführt
werden können?
Leider
gab es zur Zeit der minoischen Kultur auf Kreta (die ihre Blütezeit
von ca. 2600 bis 1500 v.Chr. erlebte) noch keine Videokameras. Wenn
wir uns streng an die Quellen halten, ergibt sich ein eher vages
Bild. Immerhin wissen wir, dass der Tanz, speziell auch der
Kreistanz, sowohl im religiösen als auch im weltlichen Kontext eine
sehr große Rolle spielte. Schon Homer berichtete davon, und
zahlreiche antike Abbildungen sprechen für sich. In Kamilari - jenem
Ort, wo meine Tanzseminare meistens stattfinden - hat man in einem
minoischen Kuppelgrab eine wunderschöne Tonfigur gefunden, die einen
Reigen von Tänzern darstellt.
Es
gibt aber noch andere Argumente für die These, dass die Wurzeln der
kretischen Tänze in die minoische Zeit zurückgehen. Kreta wird ja
oft als "Wiege Europas" bezeichnet. Die griechisch
europäische Kultur und Zivilisation nahm hier ihren Anfang, und wenn
man erlebt, wie die traditionellen kretischen Festlichkeiten heute
noch begangen werden, bekommt man das Gefühl, die Zeit sei stehen
geblieben und die alten Minoer seien wieder auferstanden. Angesichts
dessen, dass hier die Häuser oft immer noch mit behauenen Steinen
gebaut werden und diese schon in minoischen Bauwerken verwendet
wurden, bevor sie dem Zahn der Zeit zum Opfer fielen, bekommt man
einen Eindruck von der Kontinuität, die über Tausende von Jahren
bewahrt wurde. Deshalb gehe ich davon aus, dass die meisten
kretischen Tänze auch schon in minoischer Zeit ähnlich wie heute
getanzt worden sind.
Das
Symbol bzw. die Idee des Labyrinths kommt ja wohl ursprünglich aus
Kreta. Dazu soll es auch einen Tanz geben. Kannst du dazu etwas
sagen?
Ja,
das Labyrinth spielt in der kretischen Mythologie eine große Rolle.
Im Zentrum des
Labyrinths soll ein Menschen fressendes Ungeheuer, eine Kreuzung aus
Stier und Mensch, gehaust haben. Jedes Jahr wurden ihm vierzehn junge
Menschen aus Athen geopfert, indem sie in dieses Labyrinth geschickt
wurden, aus dem sie nie wieder herausfanden. Bis eines Tages Theseus,
ein Königssohn aus Athen, es schaffte, den Minotaurus zu besiegen
und mitsamt seinen Freunden aus dem Labyrinth heil wieder heraus zu
kommen. Aus Freude darüber sollen sie zusammen ihren Gang durch das
Labyrinth in Form eines Tanzes noch einmal dargestellt haben.
lnteressanterweise gibt es heute in ganz Griechenland noch Tanze mit
diesem Hintergrund. Auf Kreta ist es vor allem der "Siganos",
der auf den Labyrinthtanz zurückgeführt wird.
Dieses
epochale Ereignis soll nach Meinung vieler die Geburtsstunde des
typischen griechischen Tanzes sein. Tatsächlich geht es bei den
griechischen Tänzen immer wieder um die Themen Tod und Wiedergeburt,
den Sieg des Lichts über die Dunkelheit, die Wiedergeburt nach der
Begegnung mit den Dämonen. Analog zum Labyrinth könnte man sagen,
dass man beim Tanzen gemeinsam durch etwas "hindurchgehen"
muss. Insofern verstehe ich die griechischen Tänze auch als
Therapie, als Heiltänze oder als "heilige Übungen", die
die Götter den Menschen übermittelten, damit sie sich von den
inneren Dämonen befreien und sich mit dem "Göttlichen" in
Verbindung setzen konnten.
Du
bietest auf Kreta Tanzkurse an. Wie läuft das ab? Welche
Voraussetzungen sollten die Teilnehmer mitbringen?
Der
nächste Kurs Ende April 2013 trägt den Titel "Kretas
vergessene Tänze". Es gibt nämlich heute auf Kreta fünf
Standardtänze, die hier jeder kennt und die auf jedem Dorffest, bei
Hochzeiten und anderen Feiern getanzt werden. Es ist allerdings
allgemein wenig bekannt, dass es noch viele weitere kretische, fast
in Vergessenheit geratene Tänze gibt, die kaum oder nur in einzelnen
Dörfern gepflegt werden. Um solche Tänze geht es in diesem Seminar.
Sie bilden einen einmaligen kulturellen Schatz und verdienen es, vor
dem Vergessen bewahrt zu werden. Erst in letzter Zeit finden sie
wieder vermehrt Beachtung.
Meine
Kurse wenden sich sowohl an blutige Anfänger als auch an "alte
Hasen". Das ist zum einen dadurch möglich, dass ich die Gruppen
relativ klein halte, aber auch dadurch, dass das gemeinsame Tanzen im
Kreis eine Atmosphäre und eine Dynamik schafft, die uns unseren
westeuropäischen, leistungsorientierten Verstand einmal ausschalten
und als Gruppe agieren lässt, also gemeinsam etwas auf die Beine zu
stellen, anstatt einander zu konkurrieren. Wenn das gelingt,
geschehen Wunder, und ich bin selbst immer wieder verblüfft und
dankbar angesichts der Begeisterung, die aus diesen Tänzen heraus
entstehen kann. Ich fühle mich dann eigentlich nur noch als "Kanal",
durch den die Tänze vermittelt werden, um dann ihre Wirkung zu
entfalten.
Neben
diesen Tanzkursen gebe ich auch Kurse zum Thema: "Griechisch
tanzen & trommeln". Es geht dabei vor allem um die lebendige
Erfahrung der sich sowohl im Tanz als auch in der Musik ausdrückenden
rhythmischen Prinzipien. Diese Kurse sind so konzipiert, dass
Tanzbegeisterte auch den Rhythmus entdecken und dabei Instrumente
spielen, also zu Musikern werden. Andere. die eher von der Musik
herkommen, lernen tanzen. Hier findet also immer ein sehr lebendiger
und kreativer Prozess statt.
Auch
dieser Kurs wendet sich an Anfänger und Fortgeschrittene. Wie die
anderen Kurse dauert er sieben Tage. Täglich gibt es drei Stunden
intensiven Unterricht sowie die Möglichkeit zu anderen Aktivitäten,
z.B. Besuch eines Livekonzerts, ein Spaziergang zu einem über 2000
Jahre alten Olivenbaum, oder einfach nur zusammen sein, abends etwas
kochen, zwanglos miteinander tanzen.
Welche
Landschaft, Atmosphäre und Menschen können die Teilnehmer erleben?
Die
kretische Landschaft ist phänomenal, die Berge sind über 2S00 m
hoch, deren Gipfel oft bis im Juni schneebedeckt sind. Die Insel ist
vom tiefblauen Meer umgeben. Mit unzähligen Buchten und Stränden.
Für mich gehören Tänze und Musik untrennbar zu dieser grandiosen
Landschaft. Dieselbe Tiefe. die ich in der Musik empfinde, begegnet
mir auch hier. Natürlich prägt das auch die Kreter. Die Menschen
hier sind sehr gastfreundlich und mit Recht stolz auf ihre alte
Kultur. Um sie besser zu verstehen, ist es übrigens wichtig, sich zu
vergegenwärtigen, dass die Bevölkerung hier immer wieder unter
Fremdherrschaft zu leiden hatte, sich immer wieder im Widerstand
aufrieb, was oft mit unsagbarem Leid verbunden war. Auch das spürt
man in den Liedern und Tänzen.
Was
liegt dir besonders am Herzen?
Ich
bekenne, dass das Tanzen für mich eine spirituelle Qualität hat.
Für mich ist Tanzen ein Weg zur inneren geistigen Entwicklung, weg
vom Ego, hin zum "Alles ist Eins". Dabei liegt für mich
das Besondere am griechischen Tanz darin, dass er nicht beansprucht,
spirituell oder esoterisch zu sein. Es handelt sich ja um Volkstänze,
d.h. sie werden vom "einfachen Volk" gepflegt. Man muss
also nicht unbedingt eine spirituelle Lebenseinstellung haben, um gut
tanzen zu können. Dennoch bin ich überzeugt, dass diese Tänze
ursprünglich in religiösen und rituellen Zusammenhängen
entstanden. Sie sind kunstvoll ausbalanciert und üben eine starke
und gezielte Wirkung auf Körper und Geist aus.
Ich
nenne diese Tanzkultur "das Yoga des Westens", weil ich
eine Verbindung zum indischen Yoga sehe, wo ja der Tanz auch eine
wichtige Rolle spielt. Nun entdecken wir auf einmal, dass wir gar
nicht nach Indien reisen müssen, direkt vor unserer Haustüre gibt
es einen ebenso großen Schatz, der noch dazu als lebendige Tradition
existiert und erfahrbar ist.
Es
liegt mir am Herzen, viele Menschen erkennen zu lassen, dass der
griechische Tanz viel mehr ist als Syrtaki und Bouzoukimusik bei
griechischem Wein. Das ist zwar auch eine gute Sache und oft auch ein
guter Einstieg, aber daüber hinaus gibt es noch viel, viel mehr zu
entdecken.
Das
Interview führte Christian Salvesen